Adipositas

zurück

Dosisanpassung bei Adipositas

Adipositas oder Fettleibigkeit tritt auch bei Kindern immer häufiger auf. Neben den gesundheitlichen Folgen wirkt sich Adipositas auch auf die Pharmakokinetik und -dynamik von Arzneimitteln aus. Wie sollte dieses Thema bei der Arzneimitteltherapie bei Kindern berücksichtigt werden? 

Ab wann spricht man von Adipositas?
Die Definition von Adipositas basiert auf dem Body-Mass-Index (BMI). Dieser wird berechnet, indem das Körpergewicht (kg) durch das Quadrat der Körpergröße (m2) geteilt wird.

Bei Erwachsenen gilt ein BMI von 18,5 - 24,9 kg/m2 als gesundes Verhältnis von Gewicht zu Körpergröße; ein BMI von 25 - 29,9 kg/m2 gilt als übergewichtig und ein BMI von 30 - 39,9 kg/m2 als fettleibig. Krankhafte Adipositas ist definiert als ein BMI von 40 kg/m2 oder mehr oder 35 kg/m2 in Kombination mit einer Komorbidität.

Für Kinder gibt es geschlechts- und altersspezifische Wachstumstabellen (Referenzperzentilen), mit denen sich Wachstumsstörungen bei Kindern feststellen lassen. In Deutschland werden beispielsweise die Perzentile von Kromeyer-Hauschild et al. [1] oder die KiDGGS-Perzentile [2] verwendet. Es gibt Wachstumskurven unter anderem für Größe, Gewicht und BMI. Außerdem wurden unterschiedliche Wachstumskurven für Kinder mit verschiedenen ethnischen Hintergründen entwickelt. Die Kurve nach WHO-Standard [3] schließt darüber hinaus Kinder aus Brasilien, Oman, Norwegen, Ghana, Indien und den USA ein. Es gibt auch angepasste Wachstumskurven für Kinder mit bestimmten Störungen wie dem Down-Syndrom. Auch bei Frühgeburtlichkeit gibt es entsprechend korrigierte Kurven.

Der BMI wird auch zur Definition von Übergewicht und Fettleibigkeit bei Kindern verwendet. Dies geschieht derzeit auf der Grundlage der Ergebnisse der Studie von Cole et al. [4] aus dem Jahr 2000. Die internationalen Grenzwerte für Kinder beruhen auf der Analyse mehrerer Wachstumsstudien an fast 100.000 Jungen und fast 100.000 Mädchen im Alter von 0 - 25 Jahren.

Der für Erwachsene geltende Grenzwert von 25 kg/m2 für Übergewicht variiert für Kinder je nach Alter und Geschlecht zwischen 18,02 kg/m2 (für Mädchen im Alter von 2 Jahren) und 25 kg/m2 (für Jungen und Mädchen im Alter von 18 Jahren). Der Schwellenwert von 30 kg/m2 für Erwachsene reicht von 19,81 kg/m2 (für Mädchen im Alter von 2 Jahren) bis 30 kg/m2 (für Jungen und Mädchen im Alter von 18 Jahren).

Allgemeine Auswirkungen von Fettleibigkeit auf die Pharmakokinetik und -dynamik
Wie zuvor erwähnt, kann Adipositas die Pharmakokinetik von Arzneistoffen beeinflussen. So kann beispielsweise die Resorption aufgrund einer erhöhten Durchlässigkeit der Darmwand und einer veränderten Magenentleerungszeit beeinträchtigt werden. Darüber hinaus hat Adipositas Einfluss auf das Verteilungsvolumen und die Aktivität der Leberenzyme, insbesondere bei einer Fettleber. Auch Veränderungen der Nierenfunktion spielen bei Adipositas eine Rolle. Darüber hinaus kann die Pharmakodynamik von Arzneistoffen z. B. durch Entzündungen beeinflusst werden [5, 6].

Muss die Arzneimitteltherapie angepasst werden? 
Angesichts der Auswirkungen von Adipositas auf die Pharmakokinetik und -dynamik stellt sich die Frage, ob die Arzneimitteltherapie angepasst werden muss. Ist eine Therapie auf Grundlage des tatsächlichen Körpergewichts (TBW) möglich oder sind Dosisanpassungen oder alternative Therapien zu erwägen?

In der Literatur werden verschiedene Arten des Körpergewichts für die Dosierung verwendet:

  • Gesamtkörpergewicht (GKG, "total body weight", TBW) = tatsächliches Körpergewicht
  • Fettfreie Masse (FFM, "lean body weight", LBW) = Gewicht von Skelett, Muskeln, Organen und Blutvolumen
  • Fettmasse (FM) = Gewicht des Körperfettes = GKG - FFM
  • Normale Fettmasse (NFM) = FFM + FM * fFett
    [fFett (fraktioneller Anteil) = spezifischer Faktor eines Arzneistoffs, der die Beeinflussung des Verteilungsvolumens oder der Clearance des Arzneistoffs durch die Fettmasse beschreibt]
  • Ideales Körpergewicht (IKG, "ideal body weight", IBW) = Gewicht abgeleitet aus Wachstumskurven
  • Angepasstes Körpergewicht (AKG, "adjusted body weight", ABW, AjBW, AdjBW) = IKG + Korrekturfaktor (z.B. 0,25) * (GKG – IKG)

Adipositas bei Kindern
Leider ist wenig über Dosisanpassungen bei adipösen Kindern bekannt. Im Jahr 2015 veröffentlichten Ross et al. [7] einen Review über die Informationen, die bei Kindern bekannt sind. Der "Specialist Pharmacy Service" des britischen "National Health Service" (NHS) veröffentlichte im Jahr 2021 ebenfalls einen Review mit Empfehlungen für Dosisanpassung bei adipösen Kindern. Enthält der Review von Ross et al. oder des NHS Informationen zu Dosisanpassungen bei Adipositas zu einem einzelnen Wirkstoff, werden diese bei der Erstellung oder Überarbeitung einer Wirkstoffmonographie im Kinderformularium berücksichtigt. In der Monographie sind diese Informationen dann unter "Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen" zu finden. 

Gerade Medikamente mit einer geringen therapeutischen Breite und einem geringen Verteilungsvolumen müssen bei adipösen Kindern nach dem idealen Körpergewicht (IBW) dosiert werden, um Überdosierungen zu vermeiden (Tabelle 1) [7, 8].

Tabelle 1: Auswahl an Medikamenten, die bei adipösen Kindern nach IBW dosiert werden müssen (kein Anspruch auf Vollständigkeit) [7-10]:

Wirkstoff
Acetylsalicylsäure (bei Langzeitanwendung)
Aciclovir
Albumin
Aminocapronsäure
Atracurium
Baclofen
Benzodiazepine *
Carbamazepin *
Ciclosporin
Digoxin
Enalapril §
Elektrolyte (Calciumcarbonat, -chlorid, -gluconat, Kaliumchlorid, Magnesiumsulfat, Natriumbicarbonat)
Furosemid §
Glycopyrronium
Hydroxychloroquin
Immunglobulin G (IVIG)
Katecholamine (alle) §
Ketamin
Lidocain *
Mannitol
Methylprednisolon
Metoclopramid
Morphin
Phenytoin/Fosphenytoin
Theophyllin *
Vecuronium
Voriconazol

§ Dosis bis zur gewünschten Wirkung auftitrieren
* Dosierung nach IBW nur in der Erhaltungstherapie notwendig

Im Gegensatz zur Dosierung nach IBW kann es bei Medikamenten mit geringem Verteilungsvolumen und breitem therapeutischem Fenster sowie bei Medikamenten mit großem Verteilungsvolumen und enger therapeutischer Breite sinnvoll sein, nach angepasstem Körpergewicht (AdjBW) zu dosieren. Ferner muss dann je nach Wirkstoffklasse das individuelle Risiko einer Über- oder Unterbehandlung berücksichtigt werden.

Tabelle 2: Auswahl an Medikamenten, die bei adipösen Kindern nach AdjBW berechnet werden müssen (kein Anspruch auf Vollständigkeit) [7, 10]:

Medikamentengruppe Wirkstoff Korrekturfaktor (Adjustment Factor)
Analgetika Fentanyl
Hydromorphon
Methadon
Oxycodon
0,25
Ibuprofen
Paracetamol
0,35
Antibiotika Azithromycin § 0,25
Amikacin
Gentamicin
0,4
Antikonvulsiva Carbamazepin * 0,25
Levetiracetam 0,35
Antidote Protamin 0,4
Kontrastmittel Ioversol 0,25
Muskelrelaxanzien Cisatracurium ⊥ 0,2
Pancuronium
Rocuronium
0,25
Suxamethonium 0,8
Parasympathomimetika Neostigmin 0,4
Supplemente Fettemulsion i.v. 0,25


§ Dosierung nach AdjBW nur in der Erhaltungstherapie notwendig

* Dosierung nach AdjBW nur bei Initialdosis notwendig
⊥ oder Dosierung nach IBW

Genauere Dosisberechnungen bei übergewichtigen Kindern und Jugendlichen sind mithilfe der normalen Fettmasse (NFM) und dem medikamentenspezifischen Faktor fFett möglich. Da der Faktor allerdings für jeden Arzneistoff einzeln bestimmt werden muss, sind dafür zunächst weitere Studien notwendig [11]. Bis diese Daten verfügbar sind, ist die Dosisberechnung über das Idealgewicht oder das angepasste Körpergewicht in den meisten Fällen allerdings ausreichend [8]. Als Richtlinie gilt hierbei, dass die gewichtsbasierte Dosierung bei Kindern bis zu 40 kg Körpergewicht erfolgen sollte. Bei schwereren Kindern kann ebenfalls nach Gewicht dosiert werden, allerdings darf dabei die maximale Tagesdosis für Erwachsene nicht überschritten werden [12].

Referenzen

  1. Kromeyer-Hauschild K, Wabitsch M, Kunze D et al. (2001) Perzentile für den Body-mass-Index für das Kindes- und Jugendalter unter Heranziehung verschiedener deutscher Stichproben. Monatsschrift Kinderheilkunde 149: 807–818
  2. Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes - Referenzperzentile für anthropometrische Maßzahlen und Blutdruck aus der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS). 2. erweiterte Auflage 2013. Robert-Koch-Institut
  3. MGRS (2006) Multicentre Growth Reference Study Group: Enrollment and baseline characteristics in the multicentre growth reference study: Acta Paediatr Suppl 450: 7–15
  4. Cole, T. J., M. C. Bellizzi, K. M. Flegal, and W. H. Dietz. 2000. "Establishing a standard definition for child overweight and obesity worldwide: international survey."  Bmj 320 (7244):1240-3. doi: 10.1136/bmj.320.7244.1240.
  5. Stillhart, C., K. Vučićević, P. Augustijns, A. W. Basit, H. Batchelor, T. R. Flanagan, I. Gesquiere, R. Greupink, D. Keszthelyi, M. Koskinen, C. M. Madla, C. Matthys, G. Miljuš, M. G. Mooij, N. Parrott, A. L. Ungell, S. N. de Wildt, M. Orlu, S. Klein, and A. Müllertz. 2020. "Impact of gastrointestinal physiology on drug absorption in special populations--An UNGAP review."  Eur J Pharm Sci 147:105280. doi: 10.1016/j.ejps.2020.105280.
  6. Xiong, Y., T. Fukuda, C. A. J. Knibbe, and A. A. Vinks. 2017. "Drug Dosing in Obese Children: Challenges and Evidence-Based Strategies."  Pediatr Clin North Am 64 (6):1417-1438. doi: 10.1016/j.pcl.2017.08.011.
  7. Ross, E. L., J. Heizer, M. A. Mixon, J. Jorgensen, C. A. Valdez, A. S. Czaja, and P. D. Reiter. 2015. "Development of recommendations for dosing of commonly prescribed medications in critically ill obese children."  Am J Health Syst Pharm 72 (7):542-56. doi: 10.2146/ajhp140280.
  8. Rascher W 2017. „Dosierung von Medikamenten bei adipösen Kindern.“ Monatsschr Kinderheilkd 165:725–726. Doi: 10.1007/s00112-017-0342-9
  9. Paediatric Formulary Committee (Hrsg) (2016) British national formulary for children (BNFC) 2016–2017. PharmaceuticalPress, London
  10. UK Medicines Information. 2021. How should medicines be dosed in children who are obese? Verfügbar über: https://www.sps.nhs.uk/articles/how-should-medicines-be-dosed-in-children-who-are-obese/, Zugriff: 13.10.2021
  11. Anderson BJ, Holford NHG. 2017. „Getting the dose right for obese children”. Arch Dis Child;102:54–55.
  12. Neubert A, Schulze C. 2018. Aspekte der Dosierung bei Kindern und Jugendlichen. Med Monatsschr Pharm. 41(12):487-94.

(adaptiert von: www.kinderformularium.nl, Stand der Information: 05.10.2021)

zuletzt aktualisiert am: 22.11.2023